Der Kleinliebenauer „Lustgang“
Die Gestaltung unseres Kirchgrundstücks verdanken wir eigentlich einem Zufall: Gudrun Matschenz – im Verein kümmert sie sich um die Öffentlichkeitsarbeit – ersteigerte anlässlich der Leipziger Museumsnacht im April 2008 in der Leipziger Galerie für Zeitgenössische Kunst (GfZK) ein Kaffeetrinken mit deren damaliger Direktorin, Dr. Barbara Steiner. Dabei entwickelten beide Frauen die Idee, der in Deutschland eben erst gegründeten Initiative „Neue Auftraggeber“ zu einem Pilotprojekt zu verhelfen. In Frankreich wird so bereits seit 15 Jahren von Vereinen, Kollegien, Gemeinden oder Bürgervereinigungen in Auftrag gegebene, professionelle Kunst unterstützt. Die GfZK übernimmt für Projekte im Freistaat Sachsen die Rolle der Vermittlerin.
Im Herbst 2008 gab es den ersten Kontakt zur GfZK, bei dem Prämissen abgesteckt wurden: Für bildende oder skulpturale Kunst ist der Innenraum des Kirchleins zu klein und unter denkmalpflegerischen Aspekten ungeeignet. Auch der schmale Freiraum des Kirchgartens – in einer Straßenkurve gelegen – kommt für das Aufstellen einer Plastik (vorerst) nicht in Frage. „Warum denn nicht Gartenkunst?“ fragte Frau Dr. Steiner und meinte, dass ein Berliner Büro mit französischen Landschaftsarchitekten neugierig auf „Neue Auftraggeber“ sei: „Die frage ich einfach mal.“
Sehr gespannt waren wir, ob sich metropolitane Künstler auf ein kleines, verschlafenes Dorf und den „originellen Haufen“ eines bunt zusammengewürfelten Vereins einlassen würden. Es funktionierte! Auf einem Spaziergang im Februar 2009 bei Kälte und Sonnenschein nahmen sie Kirche, Kirchgarten und Kleinliebenau ein erstes Mal in Augenschein und versprachen eine Idee. „Wir lassen uns von den Pflanzen überraschen, sprechen mit den Leuten, die hier leben, beobachten Licht und Schatten über den Tag, lassen die Umgebung wirken“, erklärte Marc Pouzol vom Atelier Le Balto und formulierte seine Intentionen: „Wir wollen Prozesse in Gang bringen, Prozesse, deren Ausgang wir nicht kennen. Und er ist nie abgeschlossen.“ Sie spürten, dass die Mitglieder des Vereins und die Leute aus dem Dorf „sehr fixiert auf das Gebäude (sind). Was verständlich ist, da sie enorm viel dafür getan haben, es vor dem Verfall zu bewahren.“
Nach Unterzeichnung eines Kooperationsvertrags mit der GfZK war die Stadt Schkeuditz beim Umgang mit den komplizierten Flurstückverhältnissen einzubeziehen. Im Herbst 2009 musste ein erstes Gedankenspiel kritischen Argumenten des Vereins Stand halten: Der Grundriss der Kirche sollte auf einem leicht gedrehten Holzpodest als einer Art „Tablett“ präsentiert werden, um sie als einzigartig hervorzuheben. Über die Machbarkeit wurde heftig diskutiert: Der Verein wollte „ewig“ Haltbares, die Künstler dagegen argumentierten, alles sei im Fluss und nichts bleibe ewig. Frau Dr. Steiner vermittelte.
Der Februar 2010 brachte, kurz nach der Zusage der Bundeszentrale für politische Bildung zur Förderung
der Planungsphase, einen Vorentwurf: Aus dem „Tablett“ wurde ein „Rahmen“, der als begehbarer Steg um die Kirche herumführt und spielerisch zusammen mit dem Gelände eine neue Aufenthaltsqualität für Pilger und Kirchenbesucher schafft. Dies soll auch der Titel „Lustgang“ verdeutlichen – ein alter Begriff aus der Landschaftskunst, der „eine angenehme Weise des Erlebens meint, wie sie etwa beim Durchwandern eines Gartens entsteht“, erklärten die beiden Franzosen. Mit einem Modell und verschiedenen Skizzen veranschaulichten die Gartenkünstler ihre Idee: Ein solider Holzsteg und ein Wassergraben mit mehreren kleinen Brücken sowie Weiden sollten das Areal umgrenzen. Geplant war auch, den hinter der Kirche gelegenen Friedhof in diese Gestaltung einzubeziehen. Besonders zu Wassergraben und Friedhof regte sich im Verein jedoch Widerspruch. Schon Brecht bemerkte treffend: „Wie der Garten mit dem Plan, wächst der Plan mit dem Garten.“ Bereits zwei Wochen später gab es eine Überarbeitung. Der Verein setzte durch, dass für die viel frequentierten Bewegungsflächen vor der Kirche statt Kies historisches Straßenpflaster, das die Stadt Schkeuditz in Aussicht stellte, genutzt wird.
Ein öffentlicher Workshop Ende April 2010 bot Gelegenheit, ausführlich über die Materialien für Lustgang und Bepflanzung zu debattieren. Die Künstler steckten den Entwurf im Gelände ab, um die konkrete Konzeption regelrecht begreifbar zu machen. Die noch zuletzt diskutierte Idee eines Wassergrabens wurde verworfen – die vorhandene Straße setzte Zwangspunkte. Auch der Friedhof wurde nicht mit einbezogen, da dies nicht bei allen Beteiligten auf Wohlwollen stieß. Die Form des Stegs folgt leicht gedreht einem dem Kirchgrundriss nachempfundenen Viereck. Vor der Kirche verwandelt sich der Steg in eine Bank. Zum Friedhof hin bleibt er offen – „der Rahmen gesprengt“. Verschiedene Sorten Kies aus dem Kleinliebenauer Kieswerk, Straßenpflaster aus einem anhaltischen Dorf und Schkeuditz sowie Holzproben standen zur Diskussion. Die Meinung aller war gefragt, um zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. Am Ende wurde nahezu Einvernehmen erzielt und die Künstler erhielten „grünes Licht“, mit der Umsetzung im Sommer zu beginnen. Parallel wurden von der Stadtverwaltung Nutzungsgenehmigungen eingeholt, denn die gültigen Flurstückgrenzen sind nicht in der Landschaft ablesbar, dafür musste baurechtlich sauber eine Lösung gefunden werden. Außerdem war das Versetzen von Bekanntmachungstafeln mit der Stadt Schkeuditz sowie des Briefkastens mit der Deutschen Post zu klären, beides übrigens sehr rasch und unbürokratisch. In der Zwischenzeit konnte die Förderung der Projektausführung durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen unterzeichnet werden.
Bereits im Vorfeld der Umsetzung sorgte der Verein für die Pflasterung der Aufenthaltsflächen – uns blieb keine Wahl, wollten wir nicht unsere Konzertgäste durch Schlamm waten lassen. Dank tatkräftiger Unterstützung einer Abiturientengruppe vom Evangelischen Schulzentrum Leipzig, die innerhalb von zehn Tagen zusammen mit Erhard Zeinert den Untergrund herrichtete, und Helfern aus Rumänien aus dem Projekt „Leonardo da Vinci“ am Gut Wehlitz gelang dies im Laufe der Sommermonate trotz der zum Teil widrigen Witterung.
Der schließlich etwa 60 Meter lange Steg wurde von Atelier Le Balto und seinen Berliner Kollegen Jan Becker und Uwe Müller gemeinsam mit Helfern unseres Vereins innerhalb einer Woche im September 2010 gezimmert. Die 90 Zentimeter breiten und fünf Zentimeter starken Bohlen aus Lärchenholz sind auf einem erhöhten Splitt-Unterbau vor Nässe geschützt. Je nach Sonnenstand laden der Steg ebenso wie die Bänke zum Sitzen ein – das wissen besonders die Pilger zu schätzen, die davon gern Gebrauch machen. Anfang Oktober 2010 wurden ringsum Strauchweiden angepflanzt und die bestehende Hainbuchenhecke ergänzt. „Die Pflanzen sollen Leben in das Projekt bringen, ständige Bewegung am Lustgang verdeutlichen, so wie der Mensch ständig in Bewegung ist, auch wenn er über die Bohlen spaziert“, erklärte Marc Pouzol zur Einweihung am 30. Oktober 2010. Superintendent i.R. Friedrich Magirius verglich den Lustgang mit dem „Weg, den wir alle gehen“.
Die Resonanz zu diesem ungewöhnlichen Kunstprojekt ist unterschiedlich und überwiegend positiv.
Kritiker führten vor allem Sicherheitsbedenken ins Feld: „Brauchen wir eine Absturzsicherung?“ – „Müssen wir einen Winterdienst einteilen?“ – „Wird das länger als fünf Jahre halten?“. Erstere Bedenken konnten leicht zerstreut werden: Der Steg führt nicht mehr als 30 Zentimeter über dem Boden entlang und muss, da kein „Weg“ im rechtlichen Sinne, auch winters nicht geräumt werden. Über die Lebensdauer wird die Zeit entscheiden, aber Lärchenbohlen sollten länger als fünf Jahre halten und sind ersetzbar, so sich die Gesamtidee bewährt.
Noch im November 2010 entstand ein „Maxi-Schrank“, kreiert von den Berliner Architekten Holger Lindmüller und Gregoire Tourné. Zwischen Kirche und Weg legten wir im Frühling eine wilde Blumenwiese aus heimischem Regiosaatgut an. Restliche Pflasterarbeiten wurden erledigt und Fahrradständer eingebaut. Im Sommer 2011 haben wir den Maxi-Schrank schwedenrot gestrichen, sodass sich zusammen mit dem Klatschmohn und den Margeriten oder den Wilden Möhren und Färberkamillen auf der Wiese ein schönes Bild ergibt.